Label: Napalm Records
VÖ: 03.11.2017
Stil: Gothic Metal
Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Angst, unergründbares Leid, Wut und wohl auch unendliche Trauer. Das alles ist mit dem am Allerheiligentag im Jahre 1755 in Lissabon einhergehenden todbringenden Erdbeben in Verbindung zu bringen. Tausende Tote und Auswirkungen auf die Bevölkerung, die nicht nur die Stadt, nein ganz Portugal veränderten. Ein Ereignis, das prägenden Charakter hatte. „Und nun? Beerdigt die Toten und ernährt die Lebenden.“, so wird der seinerzeit regierende Premierminister Sebastião de Mello, später Marquês de Pombal zitiert. Er signalisierte hiermit Aufbruchsstimmung, Wiederaufbaugedanken und nicht zuletzt Hoffnung.
War es nur eine flüchtige Idee der Portugiesen MOONSPELL gewesen, oder war es gar eine tiefe emotionale Verpflichtung, dieses zerrüttende, geschichtlche Ereignis musikalisch aufzuarbeiten und in ein Konzeptalbum zu gießen? Eher die Verpflichtung, die der hohen kompositorischen Herausforderung zugleich die Stirn bietet. Ich finde das höchst spannend und inspirierend. Schade nur, dass die Lyrik in der portugiesischen Landessprache wiedergegeben wird und ich dieser Sprache nicht mächtig bin. Das 12. Studioalbum der Portugiesen trägt somit schlicht den Titel „1755“ und ist aus diesem Blickwinkel betrachtet mehr als nur ein Album, es darf sicher als ein Zeitzeugnis portugiesischer Kultur und wohlmöglich auch als ein erneuter Versuch der portugiesischen Vergangenheitsbewältigung, verbunden mit nationalem Stolz, gelten.
Ich behaupte, der Gothic Metal bietet hierfür die ideale Basis. Alleine der Gedanke an die Emotionen, die MOONSPELL während der gesamten kreativen Ausarbeitung und während der Aufnahmen zu diesem Album hatten, rütteln mich auf. Eines sei schon mal vorausgeschickt, beim Aufrütteln ist es nicht geblieben.
Bereits bei der Übersetzung des ersten Titels „Em Nome Do Medo“ (im Namen der Angst), bin ich angespannt wie ein Flitzebogen. Die Atmosphäre, die mit dem ruhigen Beginn des Songs entsteht ist grandios. Das stete, mehr im Sprechgesang zelebrierte, dezente Growling von Fernando Ribeiro verleiht dem orchestral vorgetragenen Stück die Dramaturgie, die der Song und der Inhalt braucht. Der Einsatz von Streichern, Pauken und Chören geben dieser Nummer Nachhaltigkeit und versprüht echte Emotion.
„1755“ verliert mit zunehmender Härte und Geschwindigkeit dennoch nicht seine Botschaft. Das Riffing ist beeindruckend direkt und transparent. Die Keyboards geben dem Arrangement zusätzlich Opulenz. Die orientalisch klingenden Streicher in Verbindung mit den Chören wirken sehr bombastisch. Man gewinnt den Eindruck, die Vocals stünden in ständigem Zwist oder im Zwiegespräch.
Dann treffen mich derart fette Hooks, deren Rhythmik einzigartig sind und absolut grooven. „In Tremor Dei“ setzt ein absolutes Ausrufezeichen! Sowohl kompositorisch, wie auch in der Art und Weise wie dieser Song akzentuiert, tiefgründig und schreiend nach einer gewissen Art von Sehnsucht dargeboten wird, ist das erstklassig. Ich habe bislang selten eine so von Leidenschaftlich aufgefasste Nummer gehört, Gänsehaut. Veredelt mit der zweiten Stimme von Paulo Bragança, die der ohnehin schon verzweifelten Mystik des Songs sozusagen den finalen Stoß gibt.
Dann folgt die Katastrophe, also nicht musikalisch. „Desastre“. Ein exzellentes Stück Gothic Metal, welches dem Konzept untergeordnet ist, allerdings die bis hierin erzeugte Stimmung nicht zwangsläufig erhöht. Dennoch, auch hier hört man die Geschichte der Dramatik heraus.
„Abanão“, Stoß oder eher das Beben. Dieser Track lebt von dem Gefühl der Flucht, zumindest fühle ich das. Wäre im Angesicht eines Bebens vielleicht auch nicht ungewöhnlich. Die Vocals steigern sich von Strophe zu Strophe, so wie ich auch den gesamten Song empfinde, wenngleich er immer wieder durch kurzes Innehalten aufgelockert wird. Die treibende Härte und der Groove reißen mich auch hier abermals mit.
Im Sinne des dem Album zugrundeliegenden Konzepts hat „Evento“ mit Sicherheit seine Daseinsberechtigung und ist deshalb auch wichtig. Das Arrangement jedoch kann mich nicht so, wie seine vorigen Mitstreiter überzeugen.
Der Tag, an dem es geschah: „1 De Novembro“ bringt für mich eine leichte Stiländerung mit sich. Hier wurde mehr Energie in einfachere Songstrukturen gelegt. Der Song wirkt auf mich deshalb geradliniger, konsequenter. Vor allem die Vocals brechen aus und klingen verzweifelter und wesentlich aggressiver.
Was blieb, waren die Ruinen. „Ruínas“ vermittelt mir hierbei den schweren Gang durch das, was übrigblieb. Vor allem die Harmonien sind hierauf ausgelegt und so bilden die dezent orientalisch klingenden Gitarren das Thema. In diesem Song höre ich wohl auch deshalb mehr auf die Instrumentalisierung, da diese schon für sich gesehen sehr ausdrucksstark ist. Vollendete stimmige Solis bringen die Sache für mich zum Höhepunkt.
Der Beginn von „Todos Os Santos“ könnte lupenrein auch einer Oper zugeordnet werden. Aber eben nur der Beginn, der Song an sich zeigt dann die ebenso schwermütigen Inhalte der Vorgänger auf. Das Album schließt mit „Lanternas Dos Afogados“ einer leider nicht wirklich gelungenen Interpretation eines Covers, das sei hier aber mal dahingestellt.
In meiner Zusammenfassung ist mir wichtig, dass ich das vorliegende Album „1755“ gerne isoliert betrachten möchte. Denn es gibt sicher einige Ansatzpunkte, in denen sich Vergleiche zu anderen Alben von MOONSPELL beinahe aufdrängen. Das sollte man im vorliegenden Falle aus meiner Sicht aber tunlichst vermeiden, sofern möglich. Denn, es ist eine Konzeptscheibe, in der die orchestralen Passagen durchaus wichtig sind, genauso wie die Chöre. Der monumentale Charakter muss zwingend vorhanden sein, um die Geschichte des Albums zu transportieren. Ob das nun typisch MOONSPELL ist oder nicht, empfinde ich hier nicht als maßgebend. Zudem wird eine Produktion, die mit so vielen verschiedenen Instrumenten angereichert ist, gelegentlich zu massiv. Aber auch das ist in diesem Falle notwendig. Man könnte die Liste möglicher Kritikpunkte hier fortsetzen, dies würde am Ende jedoch zu nichts führen. Entscheiden tut es der MOONSPELL-Anhänger letztlich selbst, ob ihm dieses Konzeptalbum zusagt oder nicht. Für mich ist „1755“ eine sehr gelungene Scheibe, die reichlich Atmosphäre aufbaut und jederzeit dazu einlädt, dem Projektor seines Kopfkinos Folge zu leisten. Mich hat das Album berührt und darum geht es!
Anspieltipps: „Em Nome Do Medo“, „In Tremor Dei“ und „Todos Os Santos“
Bewertung: 8,6 von 10 Punkten
Tracklist:
01. Em Nome Do Medo
02. 1755
03. In Tremor Dei
04. Desastre
05. Abanão
06. Evento
07. 1 De Novembro
08. Ruínas
09. Todos Os Santos
10. Lanternas Dos Afogados
11. Desastre (Spanish Version)