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Live on Stage Report: SOLSTAFIR | ORANSSI PAZUZU | HELGA
09.12.2024 – Berlin @ Metropol
Love it or hate it! Etwas dazwischen gibt es bei den Isländischen Post Rockern von Sólstafir nicht, auch in meiner eigenen Familie. Wo meine Frau tierisch auf die Mannen aus dem hohen Norden abfährt, so ist mein Sohn beim letztjährigen Party San schreiend von dannen gezogen. Es sei ihm verziehen, er ist noch jung. So wie auch viele der Anwesenden im rappelvollen Metropol an diesem Montagabend, denn neben den üblichen Verdächtigen und Kuttenträgern mischten sich viele Jüngere unters Publikum, die ich vielleicht in den Studierenden-Kreis verorten würde. Also eher intellektuell und belesen als der sich am Bier festhaltende normal-Metaller, zu denen ich mich durchaus zugehörig fühle. Auf was die sich im Laufe des Abends einlassen sollten, würden sie spätestens bei der zweiten Band schmerzhaft zu spüren bekommen.
Vorerst gab es allerdings eher sphärische und düstere Klänge von Helga (nee, nich die aus Wacken, die permanent gesucht wird), sondern einer recht neuen Truppe aus Yorck, die mit ihren düsteren und schleppenden Klängen musikalisch durchaus reizvoll waren und zum Headliner passten, wie der sprichwörtliche Allerwerteste auf dem Zinkeimer. Haunted ethereal progressive Metal nennt sich das dargebotene Liedgut und das macht Namengeberin Helga Gabriel sofort unmissverständlich klar. Die aus Schweden stammende Sängerin, die ihre Lyrik in ihrer Muttersprache zur Leier trägt, singt in ihrer eigenen Welt, gestikuliert viel und kann mit ihrer sehr mystischen Stimme viele der schon zahlreich Zuschauenden durchaus begeistern.
Interessant wird es, wenn die zierliche Frontfrau dann urplötzlich anfängt zu keifen wie einige ihrer Landsleute, die sich mehr dem schwarzmetallischen verschrieben haben. Sehr abwechslungsreich das Ganze, allerdings bezweifle ich, ob ich noch mehr als die hier gebotenen 45 Minuten aushalten würde, denn das Ganze funktionierte für mich für die ersten 15-20 Minuten prima, danach wandte sich der vorher auftauchende Enthusiasmus in monotone Lethargie. Dennoch war das durchaus cool und ein Farbtupfer, den ich so im Vorfeld nicht erwartet hatte.
Das die Finnen von Oranssi Pazuzu in ihrer eigenen Welt leben, erkannte man schon an der Musik in der Umbauspause: Hardcore Rap! Warum zur Hölle? Meine Frau fand das gut, befreite der Sprechgesang sie aus dem Dämmerschlaf, in dem sie sich während Helga befand. Ich flüsterte ihr aber zu, dass sie gleich ganz von alleine hellwache werden würde, denn wer den Fünfer aus Tampere schon jemals live gesehen oder ein Album von ihm gehört at weiß, dass nun das komplette Inferno ausbrechen sollte.
Drei Keyboards, respektive Synthesizer wurden auf die Bühne gerollt und viele Zuschauer dachten wohl, da würde jetzt eine Depeche Mode Coverband auf den Plan treten. Weit gefehlt, denn als die Mannen um Frontmann Jun-His mit „Bioalkemisti“, dem Opener ihres jüngst veröffentlichten sechsten Albums „Muuntautuja“ in ihren einstündigen Set starteten, klappten viele Kinnladen herunter. Das totale Chaos breitete sich aus, eine Soundwand aus Coulagen, aus klangtechnischen Fragmenten und einem komplett durchdrehenden Gitarristen Ikon, der lediglich auf Socken umherrennend scheinbar die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren schien. War das eine Wand und der immense Jubel nach jedem dieser technisch überragenden Stücke war überraschend groß.
Wer sich im Vorfeld komplett auf Sólstafir geeicht hatte, erlitt einen Kulturschock, einen akustischen Kollaps und eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit überbordende Reizüberflutung, mit der viele nicht gerechnet hatten und definitiv Folgeschäden davontrugen. Ich fand dieses Sound-Chaos mehr als nur interessant, ich fand es überragend gut und wenn die Shirtmotive nicht so unsagbar kacke ausgesehen hätten, wäre eines dieser Leibchen in meine Sammlung eingeflossen. Somit musste ich mich mit einem Gig begnügen, der auf jeden Fall zum ungewöhnlichsten und krassesten gehörte, was ich in den letzten Jahren erleben durfte. Und so wild diese ungewöhnliche Truppe auf der Bühne zugegen ist, so lieb und nett sind sie, wenn man sie beim Biertrinken und Rauchen trifft. Finnen halt.
Als dann die ersten Töne von „Nàttfari“ aus den Boxen erklingen, haben sich meisten vom Pazuzu-Schock (wird demnächst auch von der Krankenkasse anerkannt) erholt und die Hände werden nach oben gerissen. Kein Wunder, steht jetzt doch eine Band auf der Bühne, bei denen alles zu einem eigenen Sound verschmilzt, was Musik auslösen kann. Traurigkeit, Sehnsüchte, Bilder von vereisten Ländern, die Liebe zum Erbe des eigenen Landes, Poesie, Mythen, Sagen und Legenden. Sòlstafir sind musikalisch so dermaßen weitab von irgendwelchen Trends wie das Bestreben der Menschheit nach Frieden und Freiheit.
Und das beweisen die Herren Tryggvason, Austmann, Sæþórsson und Hallgrímsson einmal mehr eindrucksvoll als sie mit dem seit Jahren nicht mehr gespielten „78 Days in the Desert“ vom legendären „Köld“ Album in das Geschehen des Abends eingreifen und die Begeisterung keine Grenzen kennt. Unprätentiös, ohne Backdrop, ohne Schnickschnack, einfach Licht und die Band, die eine greifbare Aura versprüht und man kommt nicht umhin, den vier Nordmännern ohne zu zögern auf dieser Reise zu folgen. Natürlich thront die Stimme von Aðalbjörn Tryggvason über all dem, diesem langen Schlacks dem man, wenn man es nicht besser wüsste, durchaus in der Fußgängerzone ein paar Münzen angedeihen lassen möchte. Kompositionen, nein, Meisterwerke wie „Ótta“, „Svartir Sandar“, „Goddess of the Ages“ und dem unvermeidlichen und immer ikonisch bleibenden „Fjara“, bei dem sich bei mir immer noch bei jedem Hören die Nackenhärchen aufstellen, gehen ohne diese Ausnahmestimme einfach nicht.
Auch das neue Material wie „Blakkrakki“, den ich auf dem Heimweg permanent vor mich hinsummte, oder der schwarzmetallische Titeltrack vom neuen Album „Hin Helga kvöl“, bei dem Sòlstafir einfach einmal mehr beweisen, dass sie a) alles machen können und dürfen, was sie wollen und b) auf gängigen Konventionen einen dicken, wahrscheinlich aus Hárkal duftenden Haufen setzen. Als dann noch die an der Decke hängende, überdimensionale Discokugel ein nach Schnee aussehendes Licht in den Saal warf, war die Magie perfekt und einmal mehr ging ich in der Gewissheit nach Hause, etwas Außergewöhnliches miterlebt zu haben. Sólstafir spielen in ihrer eigenen Liga und ich bete zu den alten Göttern, dass dies noch lange so bleiben wird.